Der Bibeltext:
(6,3) sie wären schwerer als der Sand am Meer. Was Wunder, wenn ich wirre Reden führe!
(6,4) Die Pfeile Gottes haben mich getroffen und meinen Geist mit ihrem Gift verstört. Die Schrecken Gottes haben mich umzingelt, ein Heer von Feinden, aufmarschiert zur Schlacht.
(6,5) Kein Esel schreit auf saftig grüner Weide und jeder Stier ist still, hat er sein Futter.
(6,6) Doch wer mag ungesalzne Speisen essen? Wem schmeckt der weiße Schleim von einem Ei?
(6,7) Wie solche Nahrung mir ein Ekel ist, genauso ungenießbar ist mein Leid!
(6,8) Warum gibt Gott mir nicht, was ich erbitte? Und warum tut er nicht, worauf ich warte?
(6,9) Wenn er sich doch entschlösse, mich zu töten und mir den Lebensfaden abzuschneiden!
(6,10) Darüber würde ich vor Freude springen, das wäre mir ein Trost in aller Qual. Was er, der Heilige, befohlen hat, dagegen hab ich niemals rebelliert.
(6,11) Woher nehm ich die Kraft, noch auszuhalten? Wie kann ich leben ohne jede Hoffnung?
(6,12) Ist etwa meine Kraft so fest wie Stein? Sind meine Muskeln denn aus Erz gemacht?
(6,13) Ich selber weiß mir keine Hilfe mehr, ich sehe niemand, der mich retten könnte.
(6,14) Wer so am Boden liegt, braucht treue Freunde, dass er nicht aufhört, sich an Gott zu halten.
(6,15) Doch ihr enttäuscht mich wie die Steppenflüsse, die trocken werden, wenn es nicht mehr regnet.
(6,16) Wenn Eis und Schnee in Frühjahrswärme schmelzen, dann sind die Flüsse voll von trübem Wasser;
(6,17) doch in der Sommerhitze schwinden sie, ihr Bett liegt leer und trocken in der Glut.
(6,18) Die Karawanen biegen ab vom Weg und folgen ihnen, sterben in der Wüste.
(6,19) Aus Tema und aus Saba kamen sie, sie spähten aus, sie wollten Wasser finden.
(6,20) Doch ihr Vertrauen wurde nicht belohnt: An leeren Flüssen endete die Hoffnung.
(6,21) Für mich seid ihr genau wie diese Flüsse: Weil ihr mein Unglück seht, weicht ihr zurück.
(6,22) Hab ich vielleicht um ein Geschenk gebeten, müsst ihr für mich denn irgendwen bestechen?
(6,23) Sollt ihr Erpressern Lösegelder zahlen, um mich aus ihren Händen freizukaufen?
(6,24) Belehrt mich doch, dann will ich gerne schweigen. Wo hab ich mich vergangen? Sagt es mir!
(6,25) Durch Wahrheit bin ich leicht zu überzeugen, doch euer Redeschwall beweist mir nichts!
(6,26) Wollt ihr mich wegen meiner Worte tadeln und merkt nicht, dass Verzweiflung aus mir spricht?
(6,27) Ihr würdet noch um Waisenkinder würfeln und euren besten Freund für Geld verschachern!
(6,28) Seht mir doch einmal richtig in die Augen! Wie käme ich dazu, euch anzulügen?
(6,29) Hört auf zu richten, seid nicht ungerecht! Noch habe ich das Recht auf meiner Seite!
(6,30) Ich gehe nicht zu weit mit meinen Worten, ich kann doch Recht und Unrecht unterscheiden! «
Nun, es gibt doch immer wieder Leute, die versucht haben zu berichten, wie es in der Gefangenschaft zuging. Es sind auch manche Bücher und Berichte darüber geschrieben und manche Zeugnisse darüber in der Öffentlichkeit abgelegt worden. Einer der bekanntesten Gefangenen war wohl Solchenizin in der UdSSR. Oder auch Corrie ten Boom, die von ihren Erlebnissen in deutschen KZs erzählte.
Wenn der Pastor sagte: »Die Dinge, die ich in kommunistischen Gefängnissen erlebt habe, kann man keinem erzählen«, dann kann das ein Mehrfaches bedeuten.
1.- Es würde mich zu sehr aufwühlen, wenn ich wieder davon erzählen würde. Natürlich sind die Umstände in den meisten Gefängnissen unmenschlich, erschreckend, qualvoll und zermürbend. Wir wissen ja, dass viele Leute unter der Folter gestorben sind oder den Verstand verloren haben. Wozu sollte jemand, der das alles lebend überstanden hat, sich noch einmal in seiner Erinnerung dahin zurück versetzen?
Die Zeit war so demütigend, so entwürdigend, so peinlich, dass man es lieber für sich behält. Für manche ist es eben Gnade, wenn sie nicht mehr daran denken und davon erzählen müssen. Es ist überstanden und soll in der Vergessenheit bleiben. Um ihrer selbst willen ist es besser, sie sagen nichts mehr zu dem Thema.
2.- Eine andere Erklärung könnte sein, der Pastor wollte nichts erzählen, um seine Zuhörer zu schonen. Wer hören würde, was passiert ist, wie es zuging und warum all diese Ungerechtigkeit möglich war, der würde entweder empört oder in tiefster Seele berührt werden, ohne wirklich etwas ändern zu können. Da sind so grausame und furchtbare Dinge geschehen, welche die Phantasie und die Emotionen der anderen zu sehr belasten würden.
3.- Ein weiterer Grund könnte das Empfinden sein, dass jeder Versuch zu erklären was da geschah, immer hinter der Wirklichkeit zurück bleiben würde. Man kann wohl sagen: »Wir haben gehungert, wir sind geschlagen worden, wir mussten arbeiten, bis zum Umfallen« aber was sind Worte im Vergleich zum Erleben?
Es gibt keine Worte dafür, was ein Gefangener oder Gefolterter wirklich empfindet. Die Qualen beschreiben zu wollen, wäre angesichts der Tiefe der Erfahrung so etwas wie Hohn, wie ein Witz. Man sagt ja auch manchmal: »Das spottet jeder Beschreibung. « Warum also etwas mitteilen, das man gar nicht so mitteilen kann, wie es wirklich war.
4.- Weshalb manch einer von seinen traumatischen Erfahrungen nicht berichten möchte, könnte noch einen Grund haben. Leid ist etwas ganz Persönliches, ja etwas Heiliges. Man erzählt nicht jedem seine intimsten Erfahrungen, seine wirklichen Gefühle und Gedanken, die man unter dem unmenschlichen Druck gehabt hat. Man rührt diese Dinge nicht mehr an. Sie gehören nicht mehr zu diesem Leben und dem Alltag, in dem man jetzt steht. Die Erfahrungen im Leid sollen ihren Platz - vielleicht ihren Ehrenplatz - behalten und nicht in die profane Welt gezogen werden.
Was auch immer der Grund des Pastors gewesen sein mag, nicht über seine Erfahrungen in der Gefangenschaft zu berichten - es hat mich tief berührt.
Andererseits gibt es aber auch Menschen, die ihr Leid und ihre schweren Erfahrungen nicht für sich behalten können. Sie möchten, dass andere Leute erfahren, wie es ihnen erging, was sie empfunden, gefühlt, gedacht und sich gewünscht haben. Sie verarbeiten auf diese Weise ihre Enttäuschung, ihren Zorn, ihre Angst und ihr Trauma. Nun, Hiob war wohl einer von den Menschen, die ihre Qualen und ihr Leid mit anderen Leuten teilen müssen. Jedenfalls redet er mit seinen Freunden über seine Empfindungen.
Hiob beginnt seine Rede mit den Worten: »Wenn jemand meinen Kummer wiegen wollte und meine Leiden auf die Waage legte – sie wären schwerer als der Sand am Meer. « (Verse 2-3) Damit möchte er wohl seinen Freunden zu verstehen geben, dass sie gar nicht ermessen können, wie schwer und groß seine Qual ist. Wenn er unvernünftige Dinge sagt und nicht richtig logisch argumentieren kann, dann liegt das daran, dass seine Schmerzen zu groß sind.
Dann braucht er diesen Vergleich, um seinen Freunden klarzumachen, dass da ein Grund für seine Klage sei. Er sagt in Vers 5 »Kein Esel schreit auf saftig grüner Weide und jeder Stier ist still, hat er sein Futter. « - Er meint, wenn jemand klagt gibt es bestimmt auch eine Ursache.
Sein Leid ist so groß, dass er am liebsten Sterben möchte. Er fragt: »Warum gibt Gott mir nicht, was ich erbitte? Und warum tut er nicht, worauf ich warte? Wenn er sich doch entschlösse, mich zu töten und mir den Lebensfaden abzuschneiden! Darüber würde ich vor Freude springen, das wäre mir ein Trost in aller Qual. « (Verse 8-10) Es sind nicht direkt Selbstmordgedanken, die Hiob hier äußert. Aber er möchte doch sterben. Er erbittet von Gott diesen Gefallen. Natürlich gerät ein Mensch mit solchen körperlichen Schmerzen in eine tiefe Depression und Verzweiflung.
Und er fragt sich wie Hiob: Woher nehm ich die Kraft, noch auszuhalten? Wie kann ich leben ohne jede Hoffnung? - Ein Mann, der in einem Nazi-Gefängnis schwer gefoltert wurde hat einmal versucht zu erklären, was jemand empfindet, wenn er nach der Folter wie ein schmutziger Sack wieder in seine Zelle geworfen wird. Da lag er dann und der körperliche Schmerz hatte ganz und gar von ihm Besitz ergriffen. Doch dann sagte der Mann, sobald er wieder einigermaßen bei Besinnung war, begann er sich so schrecklich allein und verlassen zu fühlen. Genau das war auch das Empfinden des Hiob; denn er sagt: »Wer so am Boden liegt, braucht treue Freunde, dass er nicht aufhört, sich an Gott zu halten. « Ein verletzter, geschundener Mensch braucht jemand an seiner Seite, braucht Freunde.
Er braucht einmal jemand, der den Schaden sieht und ein wenig beurteilen kann. Ich erinnere mich noch daran, als ich einmal einen Unfall hatte und mein Bein verletzt war. Im ersten Schock und Schreck weiß man gar nicht, was einem wirklich passiert ist, wie schlimm der Schaden ist. Gedanken gehen einem durch den Kopf: »Werde ich jetzt sterben? Werde ich mein Bein verlieren? Wird die Verletzung zu behandeln sein? Werde ich je wieder richtig gehen können? « In solchen Momenten braucht man jemand der sagt: »Wir haben die Wunde gesehen. Es sieht nicht lebensgefährlich aus. Wir werden Dich jetzt ins Krankenhaus bringen und da wird sich der Arzt gleich der Sache annehmen. « Wenn aber keiner da ist und Du liegst so blutend auf der Erde, dann erfasst Dich schnell die Panik.
Er braucht jemand, der ihn bedauert, vielleicht jemand, der seinen Kopf hält, ihn streichelt und sagt: »Du tust mir schrecklich leid. Die haben Dich furchtbar zugerichtet. Das muss ja alles entsetzlich weh tun. Du bist ein armer gequälter Mensch. Ich bewundere Dich, Du bist ein Held in meinen Augen. « Vielleicht hätte Hiob das Mitleid seiner Freunde zurückgewiesen und etwa gesagt: »Ist schon gut, andere müssen auch leiden. Macht Euch keine Sorgen um mich! « Aber es hätte ihm bestimmt gut getan, wenn die Freunde in bedauert und ihm ihr Mitgefühl gezeigt hätten anstatt ihn zu verklagen.
Ein Mensch, der gefoltert und misshandelt wurde braucht jemand, der ihn verteidigt. Der Mann in dem Nazi-Gefängnis dachte auf einmal: »Hier ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit mit mir passiert. Man hat mich geschlagen wie einen kleinen Jungen, gedemütigt, verletzt, mir meine Freiheit geraubt und Schaden zugefügt, nur weil ich ein Jude bin. Ich habe kein Verbrechen begangen. Wer erlaubt diesen Folterknechten so etwas zu tun. - Wo ist denn der eine, der mich vor der brutalen Gewalt dieser Herren beschützt? Wo ist jemand der meine Seite vor Gericht vertritt und mir Recht verschafft? « -
So muss auch Hiob empfunden haben: »Wo ist jemand, der mein Recht vertritt? Ich bin ohne meine Schuld in Krankheit und Elend gestürzt worden. Sieht das denn keiner? Ergreift denn keiner meine Seite? Sind auch meine Freunde gegen mich? « So kommt zu den Qualen der Krankheit bei Hiob noch das Gefühl dazu, seiner Rechte und seiner Würde beraubt zu sein und niemand zu haben, der ihn verteidigt.
Weiter sagte der gefolterte Mann aus seiner Erfahrung, man wünscht sich dringend jemand, der sich der Wunden und Verletzungen annimmt. Wir brauchen einen barmherzigen Samariter, der Wein und Öl in die Wunden gießt und sich darum kümmert, dass die Blutung gestillt wird, dass es keine Infektion gibt und dass Knochenbrüche geschient werden und dass bleibender Schaden verhindert wird.
Ein Verletzter, ein Kranker braucht einen Arzt, einen Heiler, einen, der sich um die Wunden kümmert. Daran haben die Freunde des Hiob überhaupt nicht gedacht. Sie haben sich die Wunden und Geschwüre gar nicht näher angeschaut. Sie haben nicht nach einem Desinfektionsmittel gegriffen, eine lindernde Salbe aufgetragen und einen schützenden Verband angelegt.
Dafür haben sie diskutiert, philosophiert, Ratschläge erteilt und Hiob beschuldigt. Kein Wunder dass Hiob sagt: »Doch ihr enttäuscht mich wie die Steppenflüsse, die trocken werden, wenn es nicht mehr regnet« (Vers 15) und weiter »Wollt ihr mich wegen meiner Worte tadeln und merkt nicht, dass Verzweiflung aus mir spricht? « (Vers 26).
Die Freunde des Hiob waren so sehr von dem Gedanken beseelt, ihren im Unglück gelandeten Freund zu trösten, ihm zu helfen, ihm Antworten zu geben und zum Segen zu sein, dass sie das Einfachste, das Nächstliegende, die praktische Hilfe ganz vergaßen.
Ich fürchte, so geht es uns auch manchmal, wenn wir mit leidenden Menschen konfrontiert werden. Wir machen es ähnlich wie Elifas und seine Freunde: wir philosophieren, argumentieren, erklären, geben Rat oder predigen den Armen an. Dabei vergessen wir die einfachsten Dinge.
Es ist natürlicher und wirksamer, ihn zu umarmen, ihn mitleidvoll anzuhören, seine Schmerzen zu lindern, praktisch für ihn sorgen. Trösten ist heute eine sehr nötige Aufgabe. Möge Gott uns helfen, die Gelegenheiten richtig zu nutzen.
Wir beten:
Herr, wie oft sind wir ratlos, wenn wir Not sehen, oder einem trauernden, leidenden Menschen gegenüber stehen. Und wie oft haben wir schon Fehler gemacht. Hilf uns barmherzig zu sein wie der Samariter, von dem Du uns erzählt hast. Amen.
Rüdiger Klaue