Mittwoch, 1. Mai 2013
Die Gerichtsverhandlung
Am Ende der Zeit versammelten sich Millionen von Menschen auf einer riesigen Ebene vor dem Thron Gottes. Viele von ihnen schauten ängstlich in das helle Licht, das ihnen entgegenstrahlte.

Aber es gab auch einige Gruppen von Menschen, die sich hitzig miteinander unterhielten. Die Umgebung schien sie nicht zu beeindrucken.

"Wie kann Gott über uns Gericht sitzen? Was versteht er schon von unserem Leiden?", fauchte eine junge Brünette. Sie zog einen Ärmel hoch und zeigte eine eintätowierte Nummer aus einem Konzentrationslager.

Aufgeregt öffnete ein farbiger junger Mann seinen Hemdkragen. "Schaut euch das an!", forderte er seine Nachbarn auf. Am Hals sah man das hässliche Mal eines Stricks. "Gelyncht wurde ich nur darum, weil ich schwarz bin. In Sklavenschiffen hat man uns erstickt. Von unseren Liebsten wurden wir getrennt. Wie die Tiere mussten wir arbeiten - bis der Tod uns die Freiheit schenkte."

Ein junges Mädchen starrte trotzig vor sich hin. Auf ihrer Stirn stand das Wort 'Unehelich'. "Dieses Brandmal zu ertragen", murmelte sie, "ging über, über...." und ihre Stimme verlor sich im Gemurmel der anderen.

Überall auf der Ebene wurden jetzt ärgerliche Stimmen laut. Jeder richtete Klagen an Gott, weil er das Böse und das Leiden in der Welt zugelassen hatte.

Wie gut hatte er es doch im Himmel, in all der Schönheit und Helligkeit zu wohnen. Dort gab es keine Tränen, keine Furcht, keinen Hunger und keinen Hass. - Ja, konnte sich Gott überhaupt vorstellen, was der Mensch auf der Erde erdulden musste? Schließlich führte er selbst ein recht behütetes Dasein, - fanden sie.

Es bildeten sich Gruppen, und jede wählte einen Sprecher. Immer war es derjenige, der am meisten gelitten hatte. Da war ein Jude, ein Schwarzer, ein Unberührbarer aus Indien, ein Unehelicher, ein entstellter Leprakranker, ein Opfer aus Hiroshima, eine Abgetriebene und jemand aus einem Arbeitslager in Sibirien.

Sie diskutierten aufgeregt miteinander. Schließlich waren sie sich in der Formulierung ihrer Anklage einig. Der Sachverhalt war ganz einfach. Bevor Gott das Recht hatte, sie zu richten, sollte er das ertragen, was sie ertragen mussten.

Ihr Urteil: Gott sollte dazu verurteilt werden, auf der Erde zu leben - als Mensch!

Aber da Gott ja Gott war, hatten sie bestimmte Bedingungen aufgestellt. Er sollte keine Möglichkeit haben, aufgrund seiner göttlichen Natur sich selbst zu helfen. Und dazu hatten sie sich folgendes ausgedacht:

Er sollte als Jude geboren werden. Die Legimität seiner Geburt sollte zweifelhaft sein. Niemand würde wissen, wer eigentlich der Vater war. Er sollte versuchen, den Menschen zu erklären, wer Gott sei. Er sollte von seinen engsten Freunden verraten werden. Er sollte aufgrund falscher Anschuldigungen angeklagt werden, von einem voreingenommen Gericht verhört und von einem feigen Richter verurteilt werden.

Schließlich sollte er selbst erfahren, was es heißt, völlig allein und verlassen von allen Menschen zu sein. Er sollte gequält werden und dann sterben. Und das sollte in aller Öffentlichkeit geschehen und zwar so schrecklich, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er wirklich gestorben war. Dazu sollte es eine riesige Menge von Zeugen geben, die das bestätigen.

Während jeder Sprecher seinen Teil des Urteils verkündete, erhob sich ein großes Raunen in der riesigen Menschenmenge. Und als der letzte Sprecher den Urteilsspruch abgeschlossen hatte, folgte ein langes Schweigen.

Und alle, die Gott verurteilt hatten, gingen plötzlich leise fort. Niemand wagte mehr zu sprechen. Keiner bewegte sich, - denn plötzlich wusste es jeder: Gott hatte die Strafe ja schon auf sich genommen.

Verfasser unbekannt

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