Montag, 23. Dezember 2013
23. Dezember: Eigentlich
Eigentlich hätte ich nicht gehen sollen. Die Kameraden im Lager hatten mich gewarnt: „Rufus“, hatten sie gesagt, „bleib lieber hier. Hier bist du sicher; und du weißt, in der Nacht werden die Juden lebendig!“

Sie hatten natürlich recht, aber sie sind Soldaten, und in ihren Uniformen sind sie auch nachts als Römer zu erkennen. Als Zensor muß ich aber keine Uniform tragen, da brauche ich auch in der Nacht nicht zu befürchten, außerhalb des Lagers gleich als Römer erkannt zu werden, weil mein Haarschnitt in der Nacht nicht auffällt.

Erkannt zu werden, das wäre allerdings gefährlich; denn wenn auch tagsüber alle jüdischen Männer hier in Bethlehem friedlich zu sein scheinen, in der Nacht kommen die Banden aus den Bergen, holen Proviant oder Waffen; da gibt es öfter auch Übeltäter auf römische Soldaten, wenn die Juden in Überzahl sind. Richtig sicher ist man als Römer nachts wirklich nur im Lager.

Aber an diesem Abend zog es mich doch hinaus. Irgend etwas hatte mich neugierig gemacht. Ob es das Paar gewesen war, das am späten Nachmittag in meine Amtsstube gekommen war, um sich in die Steuerliste eintragen zulassen. Bei Dienstschluß!

Ich hatte die Wachstafeln schon zusammen geräumt und die Meldungen des Tages bereits abgerechnet und mich auf das Abendessen gefreut: Echt römische Mahlzeit mit frischen Früchten und knusprigem Fleisch, nicht dieses fette, starkriechende Essen, das die Leute hier im Lande zu sich nehmen. Und Wein aus den Abbruzzen.

Da steht da dieses Paar und will noch die Steuererklärung abgeben. Ich hab' denen ein paar Takte gesagt von Feierabend und, was mich das anginge, dass sie von Nazareth kämen und müde wären, und dass das ja wohl nicht mein Problem wäre, dass die Frau hochschwanger sei.

Aber als die dann noch fragten, der Mann, ob ich wohl eine Bleibe für ein paar Tage für sie wüßte, da habe ich nichts mehr sagen können. So was habe ich noch nicht erlebt: Ein jüdischer Mann fragt einen römischen Zensor, ob er eine Herberge wüßte. Ich habe die Beiden nur noch angucken können und den Kopf geschüttelt.

Wo die Juden jedem Gespräch mit uns aus dem Wege gehen, ständig sieht man, wie sie sich umdrehen und ausspucken, wenn sie auf der Straße einem Römer begegnen. Und die paar, die mit uns zusammenarbeiten, Zöllner, z.B., die sind bei ihren Glaubensgenossen ganz unten durch.

Ob es dieses merkwürdige Paar war, das dann still gegangen ist, oder der Glanz, der am Abend über der Landschaft lag, als wenn ein fremdes Licht leuchten würde, irgend etwas hatte mich neugierig gemacht.

Vielleicht war es aber auch ein Lichtschein, der aus einer Feldscheune drang. Den hatte ich bemerkt, als ich nach dem Essen noch ein wenig im Lager herum spazierte und auf den Turm am Ostwall stieg, um noch einen kleinen Schwatz mit den Wächtern zu halten. Die waren es auch, die zu mir sagten: „Rufus, bleib' lieber hier!“

Ich gebe zu, ich hatte Angst. Mit zwanzig, dreißig Soldaten an der Seite wäre mir wohler gewesen. Aber ich ging trotzdem. An der Wache hinterließ ich: „Wenn ich bis Morgen früh nicht zurück bin, sucht mich an der Feldscheune östlich vom Lager.“

Dann ging ich los. Durch die Felder, an einem Bach entlang, durch Olivenhaine und Weingärten fast bis zur Scheune. Licht hatte ich genug auf dem Weg, es war unnatürlich hell in jener Nacht. Ich starrte immer nach vorn auf das Licht aus der Scheune. Was sich da wohl verbarg? Niemals vorher hatte ich dort ein Licht gesehen.

Plötzlich hörte ich von hinten keuchende Laute und Getrampel. Eine Gruppe von Leuten kam direkt auf mich zu, Männer, Juden, wie ich an den Stimmen merkte. „Jetzt ist es vorbei!“ dachte ich nur noch, eine Bergbande!

Verstecken konnte ich mich nicht, fliehen ebensowenig. Der Weg, auf dem sie und ich waren, führte nur zur Scheune, und sie mußten mich längst gesehen haben. Ich wartete auf mein Ende. Den Zensor kannte jeder; sie mußten sich ja alle bei mir eintragen lassen; und ich war Römer.

Sie trampelten an mir vorbei wie eine Herde. Alle hatten sie die Scheune im Blick, mich schienen sie gar nicht bemerkt zu haben.

„Juden“, dachte ich, „einfach zu dumm, um einen Römer zu fangen.“ „Komm mit“, rief einer mir zu, „der Heiland ist geboren!“ Dass die Juden schon lange auf ihren Messias warteten, war mir bekannt.

Ich hatte das immer als ihre fromme Hoffnung, als Trugbild angesehen, um mit der grauen Wirklichkeit ihres Alltags unter Römerherrschaft fertig zu werden. Was erträumt man sich nicht alles, wenn man unterdrückt wird!?

Aber dass einer; Komm mit! gerufen hatte, das paßte zu der Frage vom Nachmittag, ob ich eine Bleibe wüßte.

Irgendwie schien sich die Welt zu verändern, zumindest meine Welt. Etwas zaghaft zwar, aber immerhin, ich bin hinter der trampelnden Gruppe hergetrabt. Was wohl der Kaiser in Rom dazu sagen würde, wenn die Juden ihren Befreier feierten!

An der Scheune sammelte sich die Gruppe. Von mir schien keiner Notiz zu nehmen. Dann ging das Tor auf, und der junge Mann, der kurz vor Feierabend mit seiner Frau bei mir in der Amtsstube gewesen war, kam heraus. „Es ist ein Junge; er soll Jesus heißen!“ rief er. Und dann drängte alles in die Scheune, ich auch.

Jetzt im Licht erkannte ich die Männer an meiner Seite: Hirten. Manche von ihnen sicher Mitglieder der gefürchteten Räuberbanden. Aber sie waren alle ganz friedlich, lachten, gaben sich, als würden sie sich gratulieren, die Hände oder umarmten sich.

Dann hörte ich, wie sie voller Begeisterung von dem Säugling sprachen als ihrem Retter, dem Messias. Und wie sie mich erkannten, kurz innehielten, mir dann auch die Hände schüttelten, einige umarmten mich sogar. „Euer Retter ist bestimmt nicht mein Retter“, versuchte ich ihnen zu sagen, „wenn er euch rettet, heißt das für mich Tod!“

„Nein“, riefen sie, „er ist der Retter aller Menschen. Er wird uns zeigen, dass Gott an jedem Menschen Freude hat, dass er jeden liebt, so wie er ist. Hirten und Römer, Juden und Zöllner, Kranke und Gesunde, Lahme und Blinde.“

Ich gebe zu, ich konnte das alles nicht so schnell begreifen, und das Elternpaar wohl auch nicht. Denn die blickten auch ganz erstaunt in die Runde. Und als sie mich erkannten, lächelten sie mir zu. Ich habe mich natürlich geschämt wegen heute Nachmittag.

Aber als dann die Hirten Käse und Wolle und Milch für Eltern und Kind auspackten, da konnte ich einige Goldstücke mit dem Bild meines Kaisers dazulegen. Die würden den Eltern sicher ein Stück weiterhelfen, und ich brauchte sie jetzt ja nicht mehr, wo ich doch wusste, dass der Stern meines Kaisers in Rom verblassen musste, weil Gott selbst die Herrschaft der Welt mit diesem Kind anfangen würde.

Wie Brüder sind wir aus der Scheune herausgegangen. Wenn so die neue Herrschaft aussieht, dass Menschen zu Brüdern und Schwestern werden, dann, glaube ich, haben die Kaiser von Rom und alle Könige bald keine Chance mehr.

Eigentlich hätte ich nicht gehen sollen; aber ich bin froh, dass ich gegangen bin. Ich sehe mein Leben jetzt anders, seit ich das Kind sah. Er wird anders, herrschen als die Mächtigen der Erde, und wenn die Menschen, wenn wir alle das begreifen, dann erleben wir Gottes Reich.

Verfasser unbekannt

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