Scheinbar kam das einsame Herz ganz gut mit seinem Leben zurecht. Im Laufe der Jahre hatte es sich daran gewöhnt, gebrochen und verschlossen zu sein. Doch ab und zu spürte es den Schmerz an seinen Bruchstellen. Bei genauem Hinsehen musste es feststellen, dass sogar kleine Teile fehlten. Auch der goldene Schlüssel, mit dem es früher seine Herzenstür einfach aufschließen konnte, war schon seit vielen Jahren nicht mehr auffindbar.
Das gebrochene Herz ahnte: Es konnte sich selbst nicht helfen. Ja, es hielt sich im tiefsten Innern sogar für unheilbar. Manchmal stellte es sich jedoch die Frage, wann seine Zerrissenheit angefangen hatte. Vielleicht verbarg sich des Rätsels Lösung in den fehlenden Teilen, die das Herz vor langer Zeit abgespalten und verloren hatte. Und wo war eigentlich der goldene Schlüssel geblieben?
Eines Tages begegnete dem gebrochenen Herzen während seiner Arbeit in den Weinbergen ein wunderbares, zwar vernarbtes, aber vollständiges Herz, das sogar irgendwie zu leuchten schien. Dieses weise Herz sah das Elend des einsamen Herzens, nahm es an die Hand und führte es auf einen hohen Berg. Von dort aus könne man in die Vergangenheit schauen und seine Lebensgeschichte nach und nach verstehen, erklärte es.
Doch oben angekommen war nur eine weiße Wolkendecke zu sehen und dichter Nebel überzog das Land. Kurz nach der Ankunft schien sich das weise Herz gleich wieder verabschieden zu wollen.
Das gebrochene Herz hatte große Angst und fürchtete sich vor der Einsamkeit. „Möchtest du mich jetzt etwa allein lassen?“, fragte das gebrochene Herz und staunte über die verblüffende Antwort: „Ja, denn was nun geschehen wird, das kann nur jedes Herz für sich allein erleben.
Aber hab keine Angst, es werden himmlische Helfer zu dir kommen:
Warte auf den Engel der Liebe, ohne den du dein Leben nicht anschauen könntest. Freue dich am frischen Wind der Wahrheit, der den Nebel nach und nach auflösen und die Wolken vertreiben wird.
Bitte gestatte dem Engel der Trauer, dich in den Arm zu nehmen und mit dir zu weinen. Halte seine Nähe aus und weiche nicht von ihm. Anfangs wirst du dich eingeengt fühlen, wie in einem dunklen Tunnel, der nie zu enden scheint. Doch habe Geduld.
Wenn du schließlich ein helles Licht am Ende des Tunnels siehst, dann steh auf und ergreife die Hand deines Erlösers. Er wartet schon sehr lange dort auf dich. Doch nun werde ich gehen. Sei getrost, sei behütet, sei gesegnet!“ Dann verschwand das weise Herz im dichten Nebel.
Und da saß es nun, das gebrochene Herz, einsam und allein. Doch plötzlich lief ihm ein warmer Schauer über den Rücken und es fühlte sich unendlich geborgen und angenommen. So fragte es in den Nebel: „Bist du der Engel der Liebe, der mir hier begegnen soll? Dann berühre mich noch einmal und zeige mir deine Kraft.“ Das Gefühl, das sich nun einstellte, war für das Herz überwältigend. „Ja, du kannst nur der Engel der Liebe sein“, weinte es vor Freude.
Geborgen, gehalten und getrost nahm es bald darauf den aufkommenden warmen Wind wahr, der von einer unaussprechlich schönen, leisen Musik begleitet wurde. Das Herz fragte den Wind: „Bist du der Wind der Wahrheit, auf den ich warten soll?“ Der Wind wirbelte liebevoll um das Herz herum und streifte es sanft. „Danke“, sagte es und bemerkte, wie der Wind der Wahrheit den Nebel langsam auflöste.
Als dann auch noch die ersten Wolken weg geschoben waren, sah das gebrochene Herz wundervolle Szenen seiner Kindheit vor seien Augen. Zu dieser Zeit war die Welt – und das Herz – noch in Ordnung gewesen.
„Kannst du mir zeigen, wann die ersten Risse in mein Herz gekommen sind?“ fragte es. Da ließ der Wind nach und durch das leise Rauschen schien eine flüsternde Stimme zu sagen: „Nicht so ungeduldig, mein Kind! Wir gehen ganz langsam deinen Lebensweg entlang. Egal, was du sehen wirst, der Engel der Liebe war und ist immer bei dir. Denke daran! Du kannst ihn von hier oben übrigens auch immer an deiner Seite sehen.“
Nach einer langen Stille setzte das Wehen des Windes wieder ein und unter einer Wolke des
Schweigens tauchte plötzlich eine schreckliche Situation auf. Das Herz erschrak und konnte
sehen, wie es vor vielen Jahren in einem Sandkasten spielte, als es plötzlich laut angebrüllt, mit einem Stock geschlagen und danach für eine unendliche Stunde in einen dunklen Raum eingesperrt wurde. Zutiefst erschüttert und wie gelähmt vor Schmerz hatte sich das Herz damals geschworen, sich nie mehr zu öffnen. Und mit den Worten: „Das werde ich euch nie verzeihen!“, hatte es wütend seinen goldenen Schlüssel weggeworfen.
Das gebrochene Herz hatte diese erste schreckliche Szene seiner Kindheit regungslos beobachtet, doch nun überkam es eine tiefe Trauer und es musste bitterlich weinen. „Danke, dass du mich nicht fortschickst oder vor mir fliehst!“, sagte die Trauer, „Wir beide werden gute Freunde werden und ich gehe mit dir durch den See deiner ungeweinten Tränen. Du machst es genau richtig. Weine, und wenn du möchtest, schrei den Schmerz heraus, den du früher unterdrückt hast.“
„Fällt dir wieder ein, was du damals gedacht hast?“, fragte der Wind. „Ja“, antwortete das Herz, „ich dachte: Ich kann niemandem vertrauen! Und ich war fest davon überzeugt: Ich werde nicht geliebt! Schließlich waren es meine Eltern, die mich so tief verletzten, statt in Ruhe mit mir über mein damaliges Fehlverhalten zu reden. Ihre Strafe war viel zu hart!“
„Ja, das stimmt!“, sagte der Engel der Liebe. „Doch deine Eltern hatten es auch nicht anders
erlebt.
Und weil sie ihren Schmerz nie zugelassen und überwunden haben, gaben sie ihre schlimmen Verletzungen schließlich an dich weiter. Es war kein böser Wille, sie konnten nicht anders. Sie haben ihr Bestes gegeben. Sie haben dich dennoch sehr geliebt!“
Das gebrochene Herz stöhnte vor Schmerz und weinte eine Träne nach der anderen. Die Trauer bemerkte: „Du weinst über dein Vertrauen und die Liebe zu dir und deinen Mitmenschen, die du damals verloren hast, nicht wahr? Und bestimmt auch über deinen verlorenen Schlüssel.“ „Ja, genau!“, schluchzte das Herz und schlief bald darauf vor lauter Erschöpfung in den Armen des Engels der Liebe ein.
Es vergingen harte Wochen. Denn jeden Tag offenbarte sich eine weitere schlimme Verletzung auf dem Lebensweg des gebrochenen Herzens. Es wusste schließlich, was es noch alles verloren hatte: Seinen Mut, seine Gelassenheit, sein Selbstvertrauen und zu allem Übel mehr und mehr seine Fähigkeit, Liebe zu geben und anzunehmen.
Als das Herz den Schmerz zugelassen und unzählige Tränen geweint hatte, hielt ihm der Engel der Liebe einen Spiegel hin. Das Herz konnte sehen, dass einige Wunden auf wundersame Weise geheilt waren und an ihrer Stelle nun feine Narben die Haut bedeckten.
Etwas erleichtert und dennoch entmutigt fragte es schließlich die Trauer: „Was ist mit den Teilen, die ich verloren habe, und wo ist der goldene Schlüssel geblieben? Ich will wieder vertrauen können, mich öffnen und gesund werden, will wieder wissen, dass ich liebenswert bin. Ich wünsche mir mein Selbstvertrauen und meine Würde zurück. Ich möchte neuen Mut fassen, Gelassenheit lernen und mich selbst und andere wirklich lieben können.“
Kaum hatte das gebrochene Herz seine Sehnsucht ausgesprochen, wurde es so hell, dass es beide Augen zukneifen musste. „Das kann nur das Ende des Tunnels meiner Trauer sein!“, hoffte es im Stillen. So stand es auf und streckte seine Arme aus.
Plötzlich nahm jemand seine Hände, küsste es auf die Wange und sagte liebevoll: „Ich wusste, dass du eines Tages zu mir kommen würdest. Ich bin dein Erlöser, der Sohn des Königs aller Könige. Ich gebe dir nun die fehlenden Teile deines Herzens wieder, die ich für dich aufgelesen, gereinigt und sorgfältig aufbewahrt habe. Ich erfülle deine Sehnsucht, ich heile dich und gebe dir auch den Schlüssel deines Herzens wieder, den ich für dich aufgehoben habe, nachdem du ihn weggeworfen hattest. Du bist wie ein Juwel für mich, unendlich kostbar. Ich habe deine Tränen gesehen. Du hast mich von ganzem Herzen gesucht. Hier bin ich, vertraue mir. Du bist geheilt!“
„Schau dich jetzt im Spiegel an und zeig dich den Engeln. Sie werden jubeln vor Freude und du wirst staunen, wie wunderschön du bist. Wenn wir dann zusammen gefeiert haben, werde ich die Erkenntnis in dich hineinlegen, wie du nach und nach zu deiner ursprünglichen inneren Stärke zurückfinden kannst. Und ich werde dir das Licht in dein Herz geben, das du schon bei dem weisen Herzen bewundert hast. Wenn du Acht gibst, wirst du dieses Licht nie mehr verlieren und jeder wird es früher oder später bemerken. Gib so viel und so oft wie möglich von dem Licht weiter. Je mehr du liebst, desto mehr wird es leuchten. Ich werde dich segnen und immer bei dir sein.“
Das geheilte Herz wusste nicht, was es sagen sollte. Aber es waren auch keine Worte mehr
nötig. Der Königssohn nickte dem Herzen liebevoll zu. Es umarmte die beiden Engel, bevor es den Heimweg antrat. Sichtlich erleichtert und voller Dankbarkeit machte es sich auf den Weg.
Als es den Abstieg durch die Felsen geschafft hatte, sah es am Fuße des Berges das alte
weise Herz wieder – kniend und betend auf einer Wiese. Als das weise Herz sein geheiltes,
leuchtendes Gegenüber sah, fragte es: „Na, mein Kind, habe ich dir zu viel versprochen?“ Das geheilte Herz schüttelte den Kopf und schmunzelte, denn es ahnte, dass heute sein neues Leben begonnen hatte.
weißt um die Wunden und den Schmerz.
Ich bin am Ende mit meinem Latein
und bete: „Heile doch mein Herz!“.
Ich hab so vieles ausprobiert.
Ja, manches half und machte Sinn.
Doch tief in mir bin ich frustriert.
Warum bin ich so, wie ich bin?
Das Wunder der Heilung liegt in Deiner Macht.
Du wendest das Dunkel, bringst Licht in die Nacht.
Im Glauben schließ ich meine Herzenstür auf.
Du wirst mich berühren. Herr, ich warte darauf.
Mit Dir schau ich die Wunden an, mir wurde vieles angetan.
Ich gehe mit Dir durch mein Leid und weiß, das dauert seine Zeit.
Ich werd verstehen, was geschah und was ich bisher übersah.
Aus Deiner Sicht will ich es sehn und Deinen Plan mit mir verstehn.
Ich will nicht länger auf mein verletztes Herz hörn
und mich nicht ständig an alten Wunden störn,
mich über Schwächen in mir und andern empörn
und mir nie wieder Lebenslügen schwörn.
Das Wunder der Heilung liegt in Deiner Macht.
Du wendest das Dunkel, bringst Licht in die Nacht.
Im Glauben schließ ich meine Herzenstür auf.
Du wirst mich berühren. Herr, ich freu mich darauf!
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